Thursday, February 23, 2006

Epigenetik erklärt vermehrte Fehlbildungen

Etwa hunderttausend Kinder sind allein in Deutschland mittlerweile nach künstlicher Befruchtung (in-vitro Fertilisation, IVF) geboren worden – und die allermeisten von ihnen scheinen gesund zu sein. Doch in den letzten Jahren verdichteten sich die Hinweise, dass IVF-Kinder ein leicht erhöhtes Risiko haben, mit Fehlbildungen geboren zu werden. Schuld daran könnten die Nährlösungen sein, in denen die in-vitro gezeugten Embryonen ihre ersten Stunden verbringen. Sie könnten die so genannte epigenetische Programmierung der embryonalen Zellen stören.

Studien in den USA, England und Frankreich haben ergeben, dass IVF-Kinder drei- bis sechsmal häufiger am so genannten Beckwith-Wiedemann-Syndrom, einem Größenwuchsssyndrom, leiden als natürlich gezeugte. "In den USA werden etwa ein Prozent aller Kinder mit IVF gezeugt", sagt Bernhard Horsthemke von der Universität Essen, "aber man findet unter Beckwith-Wiedemann-Syndrom-Patienten drei Prozent, die mit IVF gezeugt wurden." Als dem Humangenetiker vor einigen Jahren auffiel, dass auch Kinder mit der geistig-körperlichen Angelman-Behinderung häufig künstlich befruchtet worden waren, hatte er zunächst eine umstrittene Befruchtungstechnik als Ursache im Verdacht, die so genannte ICSI-Methode: Wenn die Samenzellen des Mannes bewegungsunfähig sind, spritzen die Ärzte das Spermium direkt in die Eizelle.

Seit August 1998 untersuchte Horsthemke deshalb gemeinsam mit dem Mediziner Michael Ludwig vom Hamburger Endokrinologikum 2687 Schwangerschaften nach künstlicher Befruchtung sowie eine Kontrollgruppe natürlich gezeugter Schwangerschaften. Die Eltern wurden nach Schwangerschaftsverlauf, Risikofaktoren und erblichen Erkrankungen in der Familie befragt. Demnach litten ICSI-gezeugte Neugeborene häufiger an Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Nieren und der Geschlechtsorgane. Von den ICSI-Kindern waren rund neun Prozent fehlgebildet, während in der Kontrollgruppe mit natürlich gezeugten Kindern nur rund sieben Prozent vergleichbare Behinderungen aufwiesen. Ein gering, aber statistisch erkennbar erhöhtes Risiko. Außerdem waren ICSI-Kinder bei der Geburt durchschnittlich 200 Gramm leichter. Inzwischen wissen Horsthemke und Ludwig, dass laut Statistik nicht nur ICSI das Risiko erhöht, ein Kind mit Angelman-Syndrom zu bekommen. Schon Paare, die längere Zeit keine Kinder zeugen konnten, oder Hormonstimulationen, die die Fruchtbarkeit der Frau erhöhen sollen, scheinen einen ähnlichen Effekt zu haben. Anzeige


Eindeutig erklären können die Forscher ihre Ergebnisse bisher nicht. Aber Horsthemke hat Indizien: Die Nährlösungen, unter denen Ei- und Samenzelle in den Kulturschalen der Reproduktionskliniken aufbewahrt werden, scheinen chemische Markierungen auf den Genen zu beeinflussen, die das Ein- und Ausschalten der Gene regulieren. Zum einen sind das so genannte Methylgruppen, die an einen der DNA-Bausteine, das Cytosin, gehängt werden. Zum anderen werden die Proteine verändert, die die DNA verpacken, die Histone. All diese chemischen Markierungen werden mit den Genen vererbt, weshalb sie epigenetische Markierungen genannt werden. In Tierversuchen ist tatsächlich nachgewiesen worden, dass sich diese epigenetischen Muster unter künstlicher Befruchtung verändern können.

Richard Schultz von der Universität Pennsylvania untersuchte beispielsweise künstlich befruchtete Mausembryonen. Je nachdem, in welcher Nährlösung er die Embryonen aufbewahrte, änderten sich die Methyl-Muster und in Folge auch die Aktivitäten vieler Gene. Und zwar sowohl wenn er zu viel als auch zu wenig Methionin, das für die epigenetischen Methylmuster gebraucht wird, in die Nährlösung gab. Zwar unterschied sich ihre Embryonalentwicklung im Vergleich zu normal gezeugten Mäusen – ähnlich wie beim Menschen – kaum. Aber in Verhaltens- und Lerntests schnitten die Mäuse deutlich schlechter ab, deren epigenetische Muster durcheinander waren. Schultz fordert nun Studien, die die Gesundheit von IVF-Kindern "von der Wiege bis zur Bahre" überprüfen sollen.

Kein leichtes Unterfangen, denn da die milliardenschwere IVF-Industrie fast ausschließlich in privat organisierten Instituten stattfindet, gibt es kaum vergleichbare Daten. Nicht einmal die detaillierte Zusammensetzung der Nährlösungen, in denen die Embryonen und Keimzellen aufbewahrt werden, sind allgemein bekannt. Denn jede Klinik hütet Änderungen wie ein Geheimnis, weil damit verbesserte Befruchtungserfolge einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz sichern. Es ist also schwer, einen Zusammenhang herzustellen zum Beispiel zwischen der Menge von Methionin in der Nährlösung und bestimmten Fehlbildungen und Aborten. Dabei könnten solche Untersuchungen auch dazu führen, die IVF-Techniken zu verbessern und sicherer zu machen, denn bisher können die Mediziner nicht erklären, warum der eine Embryo sich prächtig entwickelt, während ein anderer nach ein paar Tagen abstirbt.

Und es geht auch nicht nur um so seltene Behinderungen wie das Prader-Willi- oder Angelman-Syndrom. In einer US-Studie an 42.000 per IVF gezeugten Kindern zeigte sich, dass die Kinder ein deutlich geringeres Geburtsgewicht als normal gezeugte Babys hatten. Mit allen Folgen, die ein geringes Geburtsgewicht auf die spätere Gesundheit haben kann. Australische Forscher bestätigten die US-Studie und fanden sogar eine doppelte Rate an Geburtsdefekten (Major Birth Defects). Eine niederländische Studie, die 4224 IVF-Kinder mit über 300000 normal gezeugten Kindern verglich, entdeckte eine gering, aber signifikant höhere Fehlbildungsrate der Neugeborenen, darunter auch Fehlbildungen im Herzkreislaufsystem. Wie stark der Einfluss der Verfahren der künstlichen Befruchtung auf die Entwicklung des Embryos ist, wird man jedoch erst wissen, wenn man es untersucht hat. Die Epigenetik hat noch viel Arbeit vor sich.
[Via: Heise.de]